(Teil 1)
Die Themen Organisationsentwicklung und Management führen mich regelmäßig zur Frage: Wie wird die Arbeitskultur der Zukunft aussehen? Diese Frage ist nicht nur ein prognostisches Gedankenspiel, sondern sie betrifft konkret unsere Gegenwart. Denn zurzeit findet auf den Arbeitsmärkten der sog. „freien Welt“ ein Paradigmenwechsel statt.
Immer mehr Arbeitnehmer:innen, Führungskräfte, Manager:innen, Business-Coach:innen etc. betrachten Organisationen als lebendige, sich selbst gestaltende ‚Organismen‘. Das Bild der mechanisch funktionierenden ‚Maschine‘ verliert an Bedeutung und Attraktivität. Wer in die Trends der Gegenwart hineinhört, stößt schnell auf Schlagwörter wie Agiles Arbeiten und New Work. Die Grenzen dessen, was damit gemeint ist, sind fließend. In jedem Fall wird die Frage der ökonomischen Gewinn-Schöpfung ins Verhältnis gestellt zu Fragen nach
den gelebten Werten einer Organisation
der Wertschätzung der Mitarbeiter:innen
dem Invest in ihre Arbeitszufriedenheit
Gestaltungsfreiräumen und innovativen Potenzialen
Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten
der Flexibilisierung und Dynamisierung von Strukturen
‚guter Führung‘ und dem (Un-)Nutzen von Hierarchien
dem ‚höheren Sinn‘ der Organisationsziele
Beiträgen zur ökologischen Nachhaltigkeit
der Rolle der Digitalisierung von Arbeitsprozessen
der Wandlungsbereitschaft einer Organisation.
Die Liste zeigt eine begrüßenswerte Agenda und Verschiebung von Prioritäten; jedenfalls meiner Ansicht nach. Gestern las ich einen Instagram-Post der mediakademie. Er versammelt, wie dort steht, "Prinzipien" und "Grundsätze" für New Work in der Medizin. Genannt werden (in dieser Reihenfolge):
Patient:innenorientierung
Ganzheitlichkeit
Interdisziplinarität
Partizipation
Innovation
Vernetzung
Nachhaltigkeit
Selbstverantwortung
Kooperation
Hierarchie und Führung
Sinn
fokussiertes Arbeiten
Entwicklung
soziale Verantwortung
Wer ein bisschen auf meiner Website und in meinen Blog-Artikeln liest, kann Korrespondenzen feststellen – und zwar bis in die Wortwahl hinein. Dabei habe ich mein Vokabular nicht aus dem Jargon von Agiler Arbeit oder New Work abgeleitet; sondern aus der Reflexion eigener Arbeits-, Bildungs- und überhaupt Lebenserfahrungen im Mix meiner politischen, spirituellen und pädagogisch-wissenschaftlichen Einstellung. Letztere, meine Einstellung, ergibt sich aus ersteren, meinen Erfahrungen, und beantwortet diese wiederum. Der spirituelle Teil ist die eigentliche ‚Batterie‘. Alles, was ich auf anderen Ebenen denke bzw. tue, fließt aus ihm heraus und in ihn zurück.
Außerhalb sozialer Bubbles, in denen Spiritualität (auch in Form von Religion) gelebt wird, haben Wörter mit dem Stamm spirit- mittlerweile einen anstößigen Touch. Sie werden oft mit esoterischer Fantasterei, Anfälligkeit für Illusionen und Verschwörungstheorien, Quacksalberei, Sektierertum oder rechtsideologischer Politik assoziiert. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Sie reichen von schlichter Desinformiertheit über den Hang zu pauschalen Verallgemeinerungen bis zum Bedürfnis nach aggressiven, denunzierenden Unterstellungen.
Im New Work* wird solch ein Habitus meistens nicht offen zur Schau gestellt. Das wäre auch kaum ohne Widersprüche möglich. Denn New Work beinhaltet eindeutig Ideen, Gedanken-Perspektiven und Wert-Orientierungen, die seit Jahrhunderten, wo nicht -tausenden in ‚alten Weisheitslehren‘ der Menschheit verankert sind. Die gemeinsame Schnittmenge zwischen New Work und Spiritualität wiederum wird eher nur in Ausnahmefällen kenntlich gemacht.** Vermutlich ist sie öfter gar nicht bewusst; und die verbreiteten ‚allgemeinen Vorbehalte‘ in der Gesellschaft gegenüber Spiritualität erschweren eine Bewusstwerdung noch. Hinzu kommt, dass sich im New Work spirituell verlinkbare Anliegen immer wieder in eine neoliberale Logik ‚verirren‘. Dadurch werden sie ebenfalls verschleiert.
Ich möchte nachstehend den gesamten Bezugskomplex zwischen New Work und Spiritualität, ihre Gemeinsamkeiten, Verdeckungen und Spannungen an drei Beispielen veranschaulichen.
Beispiel 1
Ich beginne mit dem ‚inneren Zusammenhang‘, der sich, wie schon gesagt, eher seltener als häufig deutlich zeigt.
Letztes Jahr bot ich ein Online-Event zum Thema „Spiritualität und Management“ an. Für die Vorbereitungen hörte ich mich durch einige Podcasts zu Scrum*** und Agilem Mindset. In einem Interview benannte eine Führungskraft aus der IT-Branche die Werte des Agilen Mindsets wie folgt: Eigenverantwortung und Freiraum. Mit Blick auf Scrum wurde hinzugefügt: es komme im Wesentlichen auf den Mut an, in die Ungewissheit zu gehen. Yinka Okunlade spricht in ihrem Scrum-Podcast ähnlich. Sie führt als zwei Kern-Werte von Scrum Offenheit und Mut an. Außerdem sagt sie, dass Scrum „always incomplete“ sei und das Team empowern würde. Ich liste nochmal auf:
Eigenverantwortung
Freiraum
Mut zur Ungewissheit; Mut überhaupt
Offenheit
incompleteness
Empowerment
Der Faktor Mut wird zwei Mal unabhängig voneinander genannt. Er scheint im New Work also besonders wichtig zu sein. Das ist insofern logisch, als New Work darauf abzielt, tiefgreifende Veränderungen bzw. Umwandlungen in tradierten Linien von Arbeits- und Organisationskultur zu bewirken. Die Anfänge dafür liegen immer im Menschen. Deshalb gilt ein passendes Mindset als notwendige Voraussetzung. Ohne Wagemut, Risikofreude und Unerschrockenheit kann sich New Work nicht entfalten.
Wie im New Work spielt Mut auch im Schamantum° eine essenzielle Rolle. Darauf habe ich schon in einem früheren Blog-Artikel°° hingewiesen. Bei Alberto Villoldo kann man lesen: „Manchmal sind wir gezwungen, Annehmlichkeiten, Sicherheit und sogar das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, wenn wir nach unseren tiefsten Überzeugungen handeln. Dieser Mut entspringt einer höheren Quelle, und wir brauchen ihn, um einen neuen Traum zu erschaffen.“ Das Zitat berührt neben Mut auch die anderen bereits genannten Aspekte aus Agilem Mindset und Scrum. Die Bereitschaft, Risiken einzugehen, bedarf der Eigenverantwortung, Offenheit und des Freiraums. Um wirklich Neues zu entwickeln, muss es Unkalkulierbares, Nicht-Vordefiniertes geben. Das Handeln im Sinn eigener Überzeugungen – mit aller angedeuteten existenziellen Radikalität°°° –, kann als empowernder Vorgang angesehen werden.
Aus Villoldos Äußerungen zum Mut ist auch der Begriff Traum ans New Work koppelbar. Das Schamantum begreift Träume als selbständige, vollwertige Realitätsebene mit eigenen Zugängen und eigener Sprache. Im Traum leben wir Dinge, die wir im alltäglichen Wachbewusstsein nicht leben. Mitunter erhalten wir Wissen oder Antworten, die wir anders nicht erhalten würden. Träume sind eng mit der Fähigkeit zur Imagination verwoben. Diese Fähigkeit wird im New Work immer mehr eingesetzt, z. B. beim Erstellen von Visionboards. Organisationen ohne sichtbare, klare „Vision“ gelten meistens als anachronistisch. Denn im New Work wird für nötig erachtet, ein Soll-Bild von Zukunft zu entwerfen, in dem sich Charakter, gerichtete Anlage und Werte-Kodex einer Organisation bündeln. Der relativ ‚junge‘ Einbezug von Visionsarbeit in Prozesse der Organisationsentwicklung korreliert mit der ‚alten‘ Kultivierung von Visionstechniken in Schamantum, Yoga u. a. überlieferten Weisheitslehren.
Übrigens finden sich die Aspekte Offenheit, Mut zur Ungewissheit und incompleteness auch im zen-buddhistischen Konzept Shoshin wieder. Shoshin lässt sich mit Geist, Seele oder Denkweise eines Anfängers übersetzen. Das Konzept meint laut Wikipedia: „having an attitude of openness, eagerness, and lack of preconceptions when studying a subject, even when studying at an advanced level, just as a beginner would.”
Frederic Laloux ist eine der wenigen Personen, die in ihren Publikationen offen den Bezug zwischen New Work und Spiritualität herstellen. Laloux weist darauf hin, dass eine Transformation von Organisations- und Arbeitskultur nur möglich ist, wenn vorurteilsfreier Raum für, wie er schreibt, „tiefere Wahrheiten“ geschaffen wird. Er erzählt von Organisationen, die spirituell-kreative Segmente zum festen Bestandteil des Arbeitsalltags und der Team-Kommunikation machen. Dies geschieht z. B. durch Zeiten für
Stille
(Selbst-)Reflexion
Meditation
Yoga o. ä.
Story-Telling
künstlerische Performances.
Bei solchen Initiativen handelt es sich weiten Teils nicht um Add-ons, die vom Personal je nach Laune genutzt werden können; sondern um integrierte Meetings. Sie finden mit allen Mitgliedern einer Organisation, Abteilung etc. regelmäßig statt: etwa wöchentlich oder täglich. Dadurch entsteht ein ritueller Charakter. Er lässt die Zusammenkünfte auch formal zu spiritueller oder zumindest artverwandter Praxis werden.
(Teil 2 folgt.)
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*Ich fasse unter dem Begriff New Work im Folgenden auch alle Themen rund um Agiles Arbeiten, Scrum, New Change Management u. a.
**Zum Beispiel von Frederic Laloux oder einigen Coach:innen.
***Scrum ist ein methodisch durchdeklinierter Arbeitsprozess, mit dem Teams auf effiziente, möglichst selbstwirksame Weise Lösungen für anstehende Probleme entwickeln können. Scrum zeichnet sich durch ein hohes Maß an Team-Autonomie, Schritt-Reflexion und Flexibilität aus. Der Prozess stammt aus der IT, wird aber mittlerweile in sehr unterschiedlichen Branchen angewandt.
°Die Schreibweise Schamantum wähle ich bewusst: einerseits um den „Ismus“ im Wort Schamanismus zu vermeiden, andererseits zum Zweck der Gender-Neutralität.
°°°Ich meine das Wort Radikalität hier vor allem mit Blick auf dessen Ursprung im Lateinischen: radix = Wurzel.
Im Übrigen ziehe ich die Wendung existenzielle Radikalität nicht willkürlich vom Schamantum zum New Work herüber. In einem Buch über Design-Thinking steht: „Wirtschaft muss von jeder Generation neu erfunden werden.“ Und: „Selbstermächtigung oder Ohnmacht. Wir haben die Wahl.“ Beide Statements machen das synergetische Potenzial zwischen New Work und Schamantum ersichtlich. Dieses Potenzial kann sich bis in die gedankliche Austauschbarkeit steigern, z. B. wenn Villoldo schreibt: Man solle das Leben leben, das man will, oder Gründe finden, warum es nicht geht.
©Foto beboy/stutterstock
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